Tÿpo St. Gallen 2013 | Weissraum
Tÿpo St. Gallen 2013 – ein Symposium mit Seele
Seit Monaten hatte ich mich schon darauf gefreut, am Ende der vergangenen Woche (20.–23. September) war es endlich soweit: drei Tage vollgepackt mit Themen rund um Schrift und Schriftgestaltung, mit Fokus auf das Tagungsthema »Weissraum«. Das Orga-Team um Roland Stieger von der TGG hatte wirklich Erstaunliches auf die Beine gestellt. Ein hochkarätiger Vortrag nach dem anderen, Inspiration & Kreativität standen ständig unter Strom. Das Ganze souverän von Höhepunkt zu Höhepunkt geleitet durch Clemens Theobert Schedler und abgerundet durch ein tolles Abend- und Begleitprogramm.
Freitag
Die Vorträge am Freitag wurden eingeleitet durch den Schweizer Jonas Voegeli, der die Zuhörenden mit »Time, Space and Matter« entführte in Schrift- und Buchgestaltung par excellence – bis hin zu Grenzfällen… Gelungen fand ich, dass er seine zahlreiche Bücher so in schnell durchlaufende Clips verpackt hatte, dass deren Anschauen die Bücher und ihren Inhalt emotional erfahrbar gemacht haben. Die Latte war damit schon ganz schön hoch gelegt…
Der Niederländer Mathieu Lommen wünschte sich in seinem Vortrag »Buchgestaltung: eine kurze Historiografie« endlich eine Würdigung der deutschsprachigen Buchgestaltung in Buchform. Seiner Meinung nach liegt in den vorhandenen Werken immer ein Fokus auf Buchgestaltung im angelsächsischen Raum. In seiner Abhandlung über die Darstellung der Buchgestaltung in den letzten Jahrhunderten nahm er die Zuhörer mit in eine Welt der Bücher über Bücher. Abschluss seines Vortrags war die Sprung in die Gegenwart: Lommen hat gerade eine Ausstellung über Irma Boom in Paris kuratiert.
Samuel Bänziger, Rosario Florio und Larissa Kasper stellten mit »untitled« ihr Portfolio vor. Interessant dabei der Wechsel zwischen der Realität (3 Menschen sitzen an einem Tisch, die Hände auf der Tischplatte) und der Präsentation ihrer Werke durch ein Video (3 Menschen, die durch 3 Paar Hände repräsentiert werden, die auf der Tischplatte liegen, blättern, etwas hin und her reichen oder weglegen). Sehr charmante Idee!
Erik Spiekermann referierte nicht nur über Weissraum – ein Thema, dass ihn als gelernter Schriftsetzer als tatsächlich haptisch zu erfassendes Element des Satzes umtreibt –, sondern auch über unverzichtbare Bücher sowie A…lö… und wie man mit diesen umgeht. Sehr erheiternd und in typischer Spiekermann-Manier (Zitat Lommen: »Und, immer wieder: dieser Spiekermann«).
Zum Abschluss des Tages stellte Jost Hochuli (muss ich mehr zu ihm sagen – ich denke, nein!) das von ihm herausgegebene Buch über den Buchbinder Franz Zeier vor – still und heiter, wie der Protagonist. Wie alle Bücher der Edition Ostschweiz ist auch dieses liebevoll & sorgfältig gestaltet, ganz aufgehend in der Wertschätzung der Person, um die es dabei geht. Besonders schön: Alle Anwesendenen bekamen ein Exemplar geschenkt. Danke!
Samstag
Den Anfang des Tages machte Anna Rüegg. Die Dozentin für Kunstgeschichte & Bildwissenschaft und Corporate Imagery referierte über die »Farbe weiss. Kulturgeschichte, Symbol und Bedeutung«. Sie entführte in eine Welt des Lichts und des Göttlichen, der Leere, des Grauens und des Wunderlandes. Sehr erhellend.
Die Schriftdesignerin Veronika Burian stellte das Thema »Shape & Countershape« in das Zentrum ihres Vortrags. Der Raum innerhalb und zwischen den Buchstaben wie auch zwischen den Zeilen, Gegensätze wie Form und Gegenform, der Rhythmus: alles Aspekte, die für sie bei der Schriftgestaltung eine zentrale Rolle spielen.
Im Anschluss führte Jost Hochuli kurz in die aus seiner privaten Sammlung generierte Ausstellung »Einige von Hand geschriebene Briefe« ein, die derzeit in der Schule für Gestaltung gezeigt und von einem gerade erschienenen Buch begleitet wird. Das Beste: Denjenigen, die sich im Anschluss vor die Vitrinen statt direkt in den Speisesaal begaben, spendierte Hochuli spontan noch zusätzliche Perlen aus seiner Erfahrungskiste. Hach, dafür hätte ich komplett auf des Mittagessen verzichtet (was aber trotzdem noch serviert wurde – an dieser Stelle ein riesiges Dankeschön an das hochprofessionelle und extrem freundliche Verköstigungsteam!).
Am Nachmittag gewährte der Philosoph und Grafiker Kurt Höretzede Weisheiten & spannende Einblicke in den WEISSRAUM. Forum für visuelle Gestaltung Innsbruck – seine Entstehungsgeschichte und Visionen als »Denkraum & Soziotop für Gestalterinnen & Gestalter«. Klasse! (PS: Schön auch die Auflösung, welches Büchlein ihn mit dem Satz »Auf jeder Drucksache wirkt die bedruckte mit der unbedruckten Fläche zusammen« über Jahre inspiriert und geleitet hat – eines von Jost Hochuli …)
Susanne Zippel sprach danach »Über fernöstliche Weißheiten«. Jahrelange Lebens- und Alltagserfahrung in Asien (speziell Japan & China) machen sie zur Expertin für »Far East Asia Visual Communication« – im Mainzer Verlag Hermann Schmidt erschien 2011 das Buch »Fachchinesisch Typografie«. Ein Exemplar gab es zu gewinnen. Und… Ich war die glückliche Siegerin. Kein Wunder, war die Aufgabe doch in Form eines Multiple-Choice-Tests gestaltet. Wer, wenn nicht eine ehemalige Medizinstudentin, könnte sich dieser Aufgabe stellen ;-) Übrigens: Das Buch ist nicht nur physisch ein Schwergewicht, sondern auch umwerfend gestaltet. Ich bin richtig glücklich, dass Fortuna mir hold war.
Den Abschluss der Vortragreihe bildete der in den USA lebende Gestalter Willi Kunz. »Weissraum – ich weiss« hieß sein Vortrag, indem er gegen geistige Leerräume anwetterte und betonte, dass gute typografische Gestaltung immer Theorie und Praxis umfassen muss. Spannend, einem langjährigen Gestalter über die Schulter zu schauen, zu sehen, wie in seinen Projekten typografische Makro- und Mikroästhetik zum Einsatz kommen. Spannend auch seine Liste von Vorbildern.
Zu guter Letzt noch ein Highlight der ganz anderen Sorte: Manuel Stahlberger, der Schweizer Liedermacher und Zeichner brannte mit »Innerorts – Lieder & Dias« ein Feuerwerk ab, das vor allem die Lachmuskeln trainierte. Selten habe ich solch unglaublich einprägsame Bildzeichen gesehen. Bei dieser Gelegenheit habe ich mir vorgenommen, Schwyzerdütsch zu lernen, um beim nächsten Mal noch mehr lachen zu können.
Der lange Tage wurde von Getränken & Gesprächen in der Tÿpo-Lounge abgeschlossen. Ich gebe zu, dass ich so gefüllt war von all den Eindrücken, dass ich dort nicht mehr lange verweilt habe.
Sonntag
Bei schönstem Wetter gab es am Sonntag noch eine Mischung für Körper und Sinne: Ein Tÿpospaziergang durch St. Gallen mit Florian Hardwig, ein Blick in Jahrunderte alte Bücher mit schönsten Minuskeln (ganz ohne Glasscheibe dazwischen) im Lesesaal der ältesten Bibliothek der Schweiz mit Silvio Frigg und Roland Stieger sowie eine Führung durch die Stiftsbibliothek mit dem Bischöflichen Archivar Stefan Kemmer, der kurze Schlaglichter auf einige der ausgestellten Kostbarkeiten warf. Alte Bücher mit beweglichen Elementen gab es leider keine. Trotzdem: Ich hätte noch Stunden verweilen können.
Zum Abschluss fasste der Spoken-Word-Poet Richi Küttel die viel zu schnell vergangenen Tÿpotage in gesprochene Worte zusammen die – da bin ich sicher – auch in Schriftsprache noch passend wären.
Danke für drei tolle Tage. Einige Male wurde Roland Stieger von Anwesenden als Seele der Veranstaltung bezeichnet. Das ist tatsächlich so: Ohne ihn gäbe es die Tÿpo St. Gallen vermutlich nicht und sicher nicht in dieser Form. Doch sie hat zudem eine eigene Seele, so finde ich, eine, die sich aus allem und allen zusammensetzt. Ich bin in zwei Jahren unbedingt wieder dabei.
PS: Mein aktuelles Lieblingswort ist eines, das ich Sonntagmorgen in der St. Gallener Zeitung gefunden habe: Schnürli-Schrift. Es kurbelt direkt das Kopfkino an. Hach, ist das schön! Doch auch in der Schweiz wird – ebenso wie in Deutschland – über die Abschaffung der Schreibschrift in der Grundschule diskutiert. Ernsthaft! Für mich einfach unglaublich.